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Loslassen, um zuzulassen

Autorenbild: Sabine ToliverSabine Toliver

Aktualisiert: 19. Feb.

Wer die Stimme als künstlerischen Beruf wählt, für den ist wahrscheinlich die Bezeichnung vagusonar neu. Nicht aber der „klassische Stimmansatz“, der im Gesang bzw. Sprechen die Klangwellen im Körper so zusammenführt, dass die benannten Register Brust- und Kopfstimme im ganzkörperlichen Sinn zur Registermischung finden. Dieser daraus resultierende, schwebende Klangeffekt ist im Gesang gravierender, weil hier der tönende Atem besonders intensiv in der Balance gehalten werden muss. 


Eine Menge Literatur und eine Vielzahl an GesangslehrerInnen stehen bereit, jeder Person, die diesen komplexen Weg wählt, zur Seite zu sein:


Metaphern und Analogien helfen bei notwendiger Tonvorstellung, YouTube-Kanäle bei Online-Kursen und öffentliche Masterclass-Angebote inspirieren, zumindest zunächst.  Hochschulen und Theater werden bislang geflutet mit hoffnungsfrohen Gesangs- und Schauspiel-StudentInnen aus aller Welt.


Viele unter ihnen stellen bei der Aufnahmeprüfung eine frische, gut tragende und sitzende Naturstimme vor. Vieles ist bereits verortet, funktioniert den natürlichen Anlagen entsprechend. Die Augen glänzen, der anfangs etwas schüchterne Eindruck wandelt sich noch während der Eignungsprüfung in unverbrauchten, neugierig selbstbewussten Ausdruck:


Seht her – hier singe (bzw. spreche) ich und will nicht anders!


Diese Unbedingtheit wird verlangt von denen, die sich dazu entschließen, eine Aufnahmeprüfung für die Berufszweige künstlerischer Gesang oder Schauspiel abzulegen. Ein gesundes Selbstwertgefühl, verbunden mit der Ahnung des besonderen Talents, die Liebe zur eigenen Stimme, Resilienz und Kohärenz in ausgeglichenem Zusammenspiel. Dazu eine individuelle vokale Färbung, die – zumindest eines Tages –  in der Lage sein wird, das Innerste des Publikums zu erreichen. Von hervorragender Konzentrations- und Lernfähigkeit ganz zu schweigen.


Somit prasseln auf die hochmotivierten wie erwartungsfrohen Prüflinge unzählige Ingredienzien ein, die leider in der Lage sind, die auf-rechte, hoffnungsfrohe Anfangshaltung in eingeschüchterte, nicht handlebare Erwartungshaltung zu verwandeln. Kann das gut gehen? …

 

… Mitnichten. Denn die Theater und Konzertsäle sind gefüllt mit verunsicherten, verängstigten und mutlosen SängerInnen, die unter quälendem Lampenfieber leiden. Sie holen sich psychotherapeutische Hilfe oder besuchen Kurse, die zur Erleichterung embodiment-fokussierte Orientierung anbieten. Zwei, drei GesangslehrerInnen auf einmal zu besuchen ist keine Seltenheit, weil mit jeder oder jedem eine neue Chance entstehen könnte, endlich eine ausreichend konkurrenzfähige Sängerin bzw. Sänger zu sein, zu werden. Die Orientierung wird außerhalb gesucht, anstatt nach innen gerichtet zu sein. Meinung prallt auf Meinung, das schafft Unsicherheit und Instabilität.


Aus einem bislang ausgeglichenen Temperament beginnen sich Ableger zu entwickeln mit Namen Neid, Eifersucht, Konkurrenzdenken, Kritikangst. Diese Pflänzchen aus dem Reich der Gefühlsebene wirken schleichend und fies im Klangergebnis.


Unsere Stimme ist in Summe  1:1 verbunden mit unseren Befindlichkeiten, sprich Körperenergien –  negative wie positive Gefühle eingeschlossen.

Fühlen wir uns beseelt, wird der im Momentum klingende Ton genau dieses seelische Befinden hörbar machen, ob im klassischen Sinn geschult oder nicht.

Umgekehrt verhält es sich ebenso: Eine verunsicherte, entwurzelte Körperhaltung entwickelt ein identisches Tonergebnis.


Daraus erfolgt die Gleichung:


mentale Energie speist (x) körperliche Energie = hörbares und vernehmbares Tonergebnis

körperliche Energie speist (x) mentale Energie = hörbares und vernehmbares Tonergebnis


Für unser Beispiel kann das nur bedeuten, dass mit steigender Anforderung und Außeneinwirkung die hoffnungsfrohe, positive Selbstwirkung abnimmt und das Tonergebnis mit dazu.


Demnach sollten wir alles daransetzen, besagte Energien fröhlich zu stimmen?


Leichter gesagt als durchgeführt, denn, was kam eigentlich zuerst:

Die mentale bzw. körperliche Energie, die sich hörbar im Tonergebnis auswirkt oder das Tonergebnis, welches zu mentaler bzw. körperlicher Energie führt? Beide Male egal ob im positiven oder negativem Sinn.

Soll heißen: Muss ich zuerst an meinem körperlichen und seelischen Zustand arbeiten, um befriedigende Töne zu produzieren? Oder soll ich eher befriedigende Töne produzieren, um meinen körperlichen und seelischen Zustand positiv zu beeinflussen? 

Bei jeglicher Körperaktivität – und Singen wie Sprechen gehören dazu – handelt es sich um einen Kreislauf, bei dem Auslöser und Auswirkung kaum definierbar sind,  im Ergebnis jedoch gegenseitig beeinflussbar.

Gelingt es mir nun, mich an irgendeiner Stelle dieses Kreislaufs anzudocken und mir bewusst Auslöser oder  Auswirkung  auszuwählen, dann übernehme ich selbstbestimmte Steuerung.


So, wie Operanden bei einer Multiplikation nach Gutdünken austauschbar sind:

vier x drei ist im Ergebnis ebenso zwölf, wie drei x vier.


Ein körperintensiv erlebter Ton schafft ein angenehmes Gefühlserleben, wie ein angenehmes Gefühlserleben einen körperintensiven Ton schaffen und vermitteln kann – in sich gegenseitig befruchtendem Kreislauf.

Hörbar das Ganze als Phänomen unendlichen Strömens, welches sich nur dann einstellt, wenn – sängerisch betrachtet – die Automatismen übernehmen dürfen und unser Wille mit dazugehörigen Gedanken abgelöst werden vom natürlichen Zusammenwirken der in ihrer Ganzheit betrachteten Körperreflexe: Das nennen wir FLOW.

Dieser FLOW-Effekt ist es, der das künstlerische Singen bzw. Sprechen aus einem aktiven Vorgang in ein passives Erleben führt.

Nicht: Ich singe – nein – es singt in mir.


Naiv betrachtet bedeutet das: Der Wille muss weg, und mit ihm gedanklicher Ballast aller Arten. Zudem eine Unzahl überflüssiger Muskelaktivitäten, die grundsätzlich für die Tonproduktion nicht notwendig wären und dem, im Hintergrund ablaufenden, Spiel der reflektorischen Abläufe lediglich Steine in den Weg legen würden.

Die Voraussetzung dafür? Vertrauen.

Vertrauen in die naturgegebenen, angeborenen Selbstregulierungskräfte – vornehmlich unseres vegetativen, hier parasympathischen Nervensystems mit dessen Vagusnerv. Aber wie soll ich vertrauen auf etwas, was ich nicht sehen kann, nicht begreife? Dazu müsste ich meine Unsicherheit loslassen. Da greife ich doch besser zur Aktion und damit zu Sicherheit.


So entsteht das vermeintliche Credo:


Das Sicherheitsdenken behalte ich. 

Meinen Willen gebe ich nicht aus der Hand.

Augen zu und durch.

Zähne zusammenbeißen, die Pobacken dazu.

Die Bauchdecke ziehe ich vor hohen Noten mit Methode und Kraft ein, um die Töne dadurch aktiv zur Schädeldecke zu katapultieren.

So kann mein Gesang wenigstens von der Kopfresonanz profitieren.

Ich bleibe besser in der Aktivität.

Das wird schon. Muss ja. Ich habe technisch alles im Griff. Baue auf hilfreichen Druck.

Ob Ausdruck oder Aufdruck – der Unterschied? Lediglich ein Buchstabe.


Mit Hilfe dieses Credos beginnen körperliche & mentale Verbissenheit miteinander zu flirten: Durch unsichere Argusaugen betrachte ich meine Konkurrenz, suche ich ängstlich nach IntendantInnen und KritikerInnen im Zuschauerraum, verfolge ich neiderfüllt die Töne meiner KollegInnen.


Währenddessen verkrampft sich mein Inneres; es wehrt ab, stellt sich eng – ich habe Angst. Lampenfieber wird unerträglich – kaum handlebar = ein unschöner Zustand, der sich in ebensolchem Klangergebnis niederschlägt. Bin ich ehrlich zu mir selbst, dann weiß ich: Extremes Lampenfieber entsteht durch übersteigerten Leistungsanspruch, gepaart mit dem Bewusstsein eigener Defizite. Das macht mich ängstlich. Doch:


Angst kommt von Enge – Enge kommt von Angst …


Auch hier eine Gleichung, die ohne Anfang und Ende scheint.  


Worin liegt in diesen Ausführungen die wichtigste Erkenntnis?

Aktives Handeln und das Zusammenbeißen der Zähne scheinen suboptimal zu sein.


Stimmt, denn durch muskuläre Aktivität verhindere ich wie beschrieben die körpereigenen Automatismen und streue damit Sand in ein feinjustiertes, ineinandergreifendes Reflexgefüge. Zusätzlich nehme ich mir den kräftigsten beweglichen Knochen im Kopf zur Hilfe: den Unterkiefer. Schließlich ist er der mächtigste Vasall meines Willens!

Ausgestattet mit aktiver Energie kann ich nun behaupten: Ich singe!

Doch – wollten wir nicht auf ein Es-singt-in-mir zielen? Einem der angenehmsten Gefühle für den Menschen und hier speziell für die SängerInnen: Dem FLOW-Gefühl?


Das würde bedeuten, wir müssten Aktivität und Unterkiefer loslassen.

Ein Loslassen, um zuzulassen.

Nur so könnten die Automatismen und Reflexe des Körpers greifen.

Nur damit könnten sich abwehrende Verkrampfung, Enge sprich Angst wandeln in

willkommene Erwartung, Stabilität und damit Selbstvertrauen.

Die hierbei entstandene (und während des Singens entstehende) Weite schafft Raum für

die Töne, die ich nun willkommen in meinem flexiblen Körperinneren ausbreiten und damit zu mehr Resonanz führen kann. Genauso, wie es Valborg Werbeck-Svärdström in ihrem Buch Schule der Stimmenthüllung so treffend beschrieb:

"Klänge entstehen an Punkten und werden zur Peripherie."


Zur Erinnerung:

Verkrampfung x Enge = Angst

Entspannung x Zuversicht = Weite


Meinen Körper lerne ich plötzlich als Resonanzraum, als optimalen Konzertsaal kennen. Ich darf mich unabhängig fühlen von akustischen Verhältnissen um mich herum. Das erleichtert mich, stimmt mich frei. Nicht länger empfinde ich räumliche und stimmliche Grenzen. Das Vertrauen in mich und damit in mir wächst, mit ihm mein Ton.

Ich fühle eine gute Stimmung, bin mit mir und meinem Ton im Einklang.


Ich spüre: Gemüt = Stimmung = Körperenergie = Tonergebnis.

Stimmung = Körperenergie = Tonergebnis = Gemüt Körperenergie = Tonergebnis = Gemüt = Stimmung Tonergebnis = Gemüt = Stimmung = Körperenergie

....eine unendliche Gleichung.


Lege ich jeden überflüssigen Pseudo-Halt und aktiven Ballast zur Seite und mache mich dagegen mit den natürlich angelegten Stimmabläufen des Körpers vertraut, dann finde ich die Chance, meine eigene Stimme zu entfalten, zu enthüllen (Werbeck-Svärdström, Die Stimmenthüllung), zu genießen und mich durch dieses Gefühl aus innerer Anspannung und Angst zu befreien.


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